Die Debatte um ein allgemeines Smartphoneverbot an Schulen erhitzt die Gemüter – zwischen berechtigter Sorge um die mentale Gesundheit der Jugend und dem Ruf nach digitaler Kompetenz. Jörg Berger, Schulleiter und Bildungsgestalter, und Zukunftsforscher Dr. Andreas M. Walker plädieren für einen dritten Weg: Statt auf Verbote zu setzen, braucht es eine gezielte Stärkung der Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz. Denn wer die Generation Alpha zukunftsfähig machen will, muss sie befähigen – nicht entmündigen.
Jörg Berger und Andreas M. Walker, Juli 2025
Eine ernstzunehmende Anamnese
Seit dem Bestseller «Generation Angst» von Jonathan Haidt wird seit Sommer 2024 das gesetzliche Verbot von Smartphones an unseren Schulen und eine Altersgrenze von 16 Jahren für Social Media diskutiert. Aktuelle Umfragen zeigen eine zunehmende Akzeptanz, ja sogar Mehrheit für diese politische Forderung bei den betroffenen Eltern. Einzelne Kantone gehen mittlerweile bereits diesen Weg.
Ein Blick in die Statistiken zur mentalen Gesundheit der jungen Generationen «Alpha» und «Z» und das Gespräch mit Fachpersonen aus Kinderpsychiatrie und Entwicklungspsychologie zeigen, dass ein relevanter Anteil der jungen Generationen – und wohl auch der Eltern – im gesunden Umgang mit den digitalen Tools und Medien überfordert sind. Die erwarteten Auswirkungen auf deren zukünftige Lebensfreude und Arbeitsfähigkeit sind besorgniserregend.
Eine umstrittene Diagnose
In einer dynamischen und wertepluralistischen Welt ist der Versuch einer Diagnose umstritten und wird kontrovers diskutiert. Kann die Schuld wirklich einseitig der Digitalisierung zugewiesen werden? Oder brauchen wir zusätzlich ein neues Verständnis der Allianz von schulischer Bildung, familiärer Erziehung und gesellschaftlicher Kultur und Wertediskussion?
Der Lehrplan 21 als Zukunftswegweiser für Lösungsansätze
Seit einiger Zeit befassen wir uns sowohl in der Pädagogik wie auch in der Zukunftsforschung mit der Frage, wie wir die jungen Generationen auf noch unbekannte Entwicklungen und Herausforderungen der Zukunft vorbereiten. Der Fokus auf die Entwicklung von Kompetenzen statt auf Fachwissen und die entsprechend konsequente Umsetzung im Schulalltag ist dabei eine der immer wieder intensiv diskutierten Aspekte, der zudem bereits im Lehrplan 21 verankert ist. Gerade der Fachbereich «Medien und Informatik» scheint sich zu einem neuen Schlüsselbereich der persönlichen mentalen Gesundheit und der zukünftigen gesellschaftlichen Kultur und wirtschaftlichen Arbeitsweise zu entwickeln, der im Rahmen eines klassischen Fachunterrichtes nicht mehr geleistet werden kann. Die Notwendigkeit, die drei «überfachlichen Kompetenzen» «Selbstkompetenz», «Sozialkompetenz» und «Methodenkompetenz» massgeblich zu verstärken, zeigt gerade hier ihre Wichtigkeit. Und dabei zeigt sich auch, wie sehr wir das klassische Verständnis von «Schulbildung» und «Erziehung», die Allianz von Lehrpersonen, Fachpersonen und Eltern weiterentwickeln müssen, wenn wir die Zukunftsoptionen unserer Kinder fördern wollen.
Der Lehrplan 21 bietet uns bereits heute eine zukunftsweisende Antwort: es geht eben immer stärker um die Entwicklung der drei überfachlichen Kompetenzen der «Selbst-», der «Sozial-» und der «Methodenkompetenz».
Selbstkompetenz: Widerstandskraft gegen digitale Überforderung
Selbstkompetenz bedeutet, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen – ein zentrales Werkzeug, um den Herausforderungen durch Smartphones zu begegnen. Wer sich selbst regulieren kann, schützt sich besser vor digitalen Abhängigkeiten, achtet auf gesunden Schlaf und erhält seine Konzentrationsfähigkeit.
Schülerinnen und Schüler sollen lernen dürfen, ihr eigenes Medienverhalten zu steuern und reflektiert zu nutzen. Durch pädagogische Begleitung entwickeln sie z. B. ein Gefühl für angemessene Nutzungszeiten, Aufmerksamkeit im Unterricht und digitale Selbstregulation. Dabei ist zu beachten, dass insbesondere in der Pubertät die Fähigkeit zur Selbststeuerung biologisch bedingt noch nicht vollständig ausgereift ist: Impulsivität, Ablenkbarkeit und der Hang zu kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung gehören zur Entwicklungsphase. Umso wichtiger sind klare, entwicklungsangemessene Regeln und Einschränkungen, die von Elternhaus und Schule gemeinsam getragen werden. Sie bieten Orientierung und schützen vor Überforderung – ohne selbstständiges Handeln zu verunmöglichen. Dazu brauchen wir heute eine viel stärkere gemeinsame Diskussion zwischen Gesellschaft, Elternhaus und Schule.
Anstatt allein auf Verbote zu setzen – was kurzfristig als die einfachere Option erscheint –, befähigt man die Lernenden, eigenverantwortlich mit Ablenkungen umzugehen – mit pädagogisch gesetzten Leitplanken, sowohl im Elternhaus wie auch in der Schule. Junge Menschen sollen durch Vermittlung von Medienkompetenz zu einem selbstständigen und mündigen Leben in der digitalen Welt befähigt werden – diese Kompetenzvermittlung ist wirksamer als ein generelles Handyverbot. Entwickeln Jugendliche früh ein Bewusstsein für Chancen und Risiken digitaler Medien, können sie auch ausserhalb der Schule klügere Entscheidungen treffen. Dabei ist es häufig nötig, auch die Eltern selbst auf diesen Lernweg mitzunehmen.
Sozialkompetenz: Echte Begegnung statt digitaler Fake
Sozialkompetenz wird im digitalen Zeitalter nicht überflüssig, sondern dringender denn je. Echte Begegnungen, empathische Kommunikation und soziale Verantwortung lassen sich nicht durch Likes und Follower ersetzen. Die Schule bleibt ein Ort, an dem echte Gemeinschaft erfahren und gemeinsam gelernt wird.
Digitale Medien sind Kommunikationsmittel. Ein kompetenzorientierter Ansatz lehrt Schüler:innen, respektvoll und empathisch online zu kommunizieren, Konflikte gewaltfrei zu lösen und Netiquette einzuhalten. Statt Cybermobbing erst im Nachhinein mit Verboten zu begegnen, wird präventiv über verantwortungsvolles Verhalten in Chats und sozialen Netzwerken aufgeklärt. Genauso wie im realen Leben, gibt es auch hier gefährliche Orte, die ein besonderes Verhalten und besondere kommunikative Fähigkeiten nötig machen. Praxisberichte zeigen, dass vielen Kindern zunächst das Problembewusstsein fehlt – etwa darüber, wie öffentlich Informationen im Internet sind. Neben der familiären Erziehung ist hier auch die Schule gefragt: Sie schafft Raum, um über Privatsphäre, Ethik und die Konsequenzen digitalen Handelns zu sprechen. Programme, bei denen ältere Schülerinnen als Peer-Berater Gleichaltrige im sicheren Umgang mit dem Internet schulen, sind ein Beispiel für diese Strategie. So wird die Schule zum Lernort für digitale Zivilcourage und soziale Verantwortung.
Methodenkompetenz: Digitale Werkzeuge angemessen nutzen
Methodenkompetenz schliesslich versetzt Schülerinnen und Schüler in die Lage, neue Technologien – inklusive Künstlicher Intelligenz – sinnvoll zu nutzen. Nicht blosse Technikvermeidung, sondern ein reflektierter Umgang mit digitalen Werkzeugen gehört zu den Zukunftskompetenzen unserer Zeit. Eigentlich diskutieren wir heute eine ähnliche Frage wie bereits in den 80er Jahren bei der Integration von Taschenrechnern in den Schulunterricht.
Ein kompetenzorientierter Unterricht integriert Smartphones und Tablets punktuell als didaktische Hilfsmittel – etwa für Online-Recherchen im Klassenzimmer oder zum Einsatz interaktiver Lern-Apps. Dadurch erwerben Schüler:innen praktische Fertigkeiten im Umgang mit gängigen Technologien und Medien, wie sie in der modernen Arbeitswelt vorausgesetzt werden. Schulen, die digitale Geräte sinnvoll und angeleitet in den Unterricht einbinden, eröffnen ihren Lernenden enorme Bildungschancen anstatt sie davon auszuschliessen. Kurz: Medienbildung darf kein entbehrliches Zusatzangebot sein, sondern muss integraler Bestandteil des Lehrplans bleiben.
Den Rahmen setzt die Schule
In der aktuellen Debatte um Smartphone-Nutzung an Schulen zeigen sich teils gegensätzliche Positionen. Während Fachpersonen aus Pädagogik, Psychologie und Medienbildung einen kompetenzorientierten Umgang mit digitalen Medien empfehlen, gibt es auch zunehmend Stimmen aus den Bereichen von Erziehungspsychologie und Neurologie, die angesichts der teils gravierenden Belastungen durch exzessive Bildschirmnutzung klare Einschränkungen und verbindliche Regeln fordern.
Tatsächlich weisen Studien etwa auf die Zunahme von Schlafproblemen, Aufmerksamkeitsstörungen und sozialer Vereinsamung bei Jugendlichen hin – Phänomene, die teilweise mit der ständigen Verfügbarkeit digitaler Geräte in Verbindung gebracht werden. Gerade in der vulnerablen Phase der Pubertät, in der Selbstregulation noch nicht vollständig entwickelt ist, können unbegleitete oder übermässige Bildschirmzeiten schädlich wirken.
Entsprechend wird in einzelnen Fachkreisen auch ein zeitlich begrenztes Smartphoneverbot oder zumindest ein konsequent geregelter Zugang im Schulkontext als Schutzmassnahme diskutiert – etwa um Räume der ungestörten Konzentration oder der direkten sozialen Begegnung zu erhalten.
Diese Kritik ist ernst zu nehmen – sie verweist auf reale Überforderungen und auf den legitimen Wunsch nach einem schulischen Umfeld, das Entwicklung schützt, statt sie zu überfrachten.
Für viele Eltern und Politisierende erscheint nun ein generelles Verbot als Schutz eine einfache und griffige Massnahme zu sein – so wie die Altersbeschränkungen beim Autoführerschein, bei Alkohol, Nikotin und sexuellen Beziehungen. Gleichzeitig betonen viele Expertinnen und Experten aus Bildung und Jugendschutz, dass pauschale Verbote kaum nachhaltig wirken, sondern eher Symptome kaschieren. Entscheidend ist, den Kindern einen verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Geräten beizubringen – nicht durch Verbote, sondern durch Pädagogik. Dies ist einerseits eine Aufgabe der Schule, zugleich müssen wir Mittel und Wege finden, wie dieser pädagogische Auftrag vermehrt auch im Elternhaus und in der Gesamtgesellschaft wahrgenommen werden kann.
Auch aus psychologischer Sicht sind Lerngelegenheiten wichtiger als Ausschluss. Psychotherapeuten warnen vor Trotzreaktionen auf starre Verbote und fordern stattdessen klare Regeln mit pädagogischer Begleitung und echten Übungsräumen, in denen Jugendliche Selbststeuerung erproben können.
Fazit:
Statt pauschaler Verbote braucht es eine pädagogisch fundierte Antwort auf die Herausforderungen der digitalen Gegenwart, nicht nur für die Schule, sondern auch für das Elternhaus und die Gesamtgesellschaft. Gemeinsam sollten wir unseren Kindern und Jugendlichen ein Gegenüber sein, um den verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien aktiv lernen zu können. Der Lehrplan 21 weist mit dem Fokus auf Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz den Weg: Diese überfachlichen Fähigkeiten stärken junge Menschen darin, sich selbst zu regulieren, sozial verantwortlich zu handeln und digitale Werkzeuge sinnvoll zu nutzen – als Schlüssel zu einer gesunden, selbstbestimmten Zukunft in einer technologisierten Welt.
Über meinen Ko-Autor
Dr. Andreas M. Walker ist Past President und Ehrenmitglied von swissfuture, der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung. Er ist Leiter der Fachkommission «Futures of Education». Ebenso ist er assoziiertes Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Positive Psychologie und der Fachkommission «Positive Psychologie in der Pädagogik». Er ist Vater von vier erwachsenen Kindern und war über ein Jahrzehnt lang Elternratspräsident und jahrelang Schulrat in Basel. Mit ihm treffe ich mich alle paar Wochen zum Gespräch. Seit Sommer 2024 beschäftigt uns das Thema «Handyverbot» besonders.